(Leo Baumann, Hugo Philipp)
Stift Ardagger, eines der ältesten Stifte Österreichs, gegründet durch Kaiser Heinrich III. im Jahre 1049, wurde durch Josef II. im Jahre 1784 wieder aufgehoben. Nach der Zerstörung der Kirche und des Stiftes im Jahre 1529 durch die Türken dauerte vom Jahre 1567 bis 1700 der Wiederaufbau, und sicherlich fällt in diese Zeit die Geburtsstunde der Sonnenuhr. Bei der Restaurierung des Stiftsgebäudes in den Jahren 1974 bis 1976 wurde ein roter Fleck und im weiteren ein roter Rahmen der fast unkenntlichen Sonnenuhr gefunden. Fünf verschiedene Kalkschichten überdeckten die Gesamtfläche, und nur der Polstab zeugte vom Vorhandensein einer Uhr. Sicherlich war sie hier über 100 Jahre versteckt, denn die ältesten Menschen in Stift Ardagger und Umgebung können sich an keine Sonnenuhr erinnern. In Zusammenarbeit mit dem Bundesdenkmalamt und der Kulturabteilung der NÖ Landesregierung wurde die Uhr restauriert. Leider nicht vollständig, da verschiedene Ziffern und Zeichen in erkannter Unstimmigkeit mit einem Pinselstrich der Nächstenliebe und grauer Farbe übermalt wurden. Trotz Bemühens war es zunächst nicht möglich, jemanden zu finden, der die Uhr richtig deuten konnte. Nach einem Jahr hatte ich das Glück, auf einen Fachmann für Sonnenuhren zu treffen: Dr. Hugo Philipp aus Hilden bei Düsseldorf. Nach seinen Berechnungen konnte ich die Sonnenuhr richtig zeichnen und ein Maler aus Leidenschaft, Franz Berger aus Kollmitzberg, ergänzte die Uhr in der heutigen Pracht. Wir alle sind stolz, daß wir diese Kostbarkeit als Dokument des hohen Geistes und Könnens der Astrologen vergangener Zeit ohne der heutigen Technik erhalten dürfen und ich darf an dieser Stelle allen Mitarbeitern, die sich in so uneigennütziger Weise in den Dienst der Sache gestellt haben, im Namen derer danken, die sich heute und in Zukunft an dem Kleinod erfreuen dürfen. Die Sonnenuhr im Stift Ardagger, wie sie sich in ihrer restaurierten Form nun darbietet, gehört zu jenen Exemplaren dieser Zeitanzeiger, wie wir sie nur äußerst selten antreffen. Die Vielzahl der sich kreuzenden Linien und die Menge der Zahlen und Zeichen mögen den Betrachter dieser Sonnenuhr auf den ersten Blick verwirren. Umso größer wird aber bestimmt seine Genugtuung sein, wenn er nach einem »zweiten« Blick die vielfältigen Informationen zu deuten versteht, die diese Sonnenuhr ihm liefert. Als eine Hilfe für diesen »zweiten« Blick diene die folgende Beschreibung der Sonnenuhr und ihrer Funktionen. Bei dem Zifferblatt dieser Sonnenuhr sind eigentlich mehrere verschiedene Zifferblätter übereinander gezeichnet. Dennoch stören sie einander nicht - obwohl es zunächst so ausschauen mag denn sie stehen in gewissen Beziehungen zueinander, ja sie ergänzen einander sogar in sehr sinnvoller Weise. Darauf wird im Laufe der Beschreibung der Sonnenuhr im Detail einzugehen sein; zunächst aber eine Übersicht: Die Sonnenuhr zeigt 12 Stundenlinien der Wahren Ortszeit (WOZ) 7 Datumslinien des Jahreszyklusses 10 Linien der italischen Stunden 10 Linien der babylonischen Stunden 2 Tabellen mit je 4 Spalten für die Dauer des lichten Tages die Dauer der Nacht die Stunde des Sonnenaufgangs die Stunde des Sonnenuntergangs die Tierkreiszeichen im Jahreszyklus diesen zugeordnete Planetenzeichen. Zu diesem Zifferblatt gehört als Schattenstab ein »Polstab«. Er steht parallel zur Erdachse und weist also mit dem oberen Ende nach dem Polarstern; daher auch der Name. Die Stelle des Zifferblattes, an der der Polstab aus der Wand tritt, wird allgemein mit »Fußpunkt« bezeichnet. Auf dem Polstab ist an einer vorausbestimmten Stelle eine Kugel befestigt. Die vom Polstab geworfene Schattenlinie ist der Zeiger für die Anzeige der Wahren Ortszeit. Der von der Kugel geworfene Schattenpunkt ist die Ablesemarke für das Datum und die italischen und babylonischen Stunden.
Nach der Regel der Wahren Ortszeit wird der Tag von Mitternacht bis Mitternacht in 24 oder
zweimal 12 Stunden eingeteilt. 12 Uhr Mittag ist dann, wenn am Standort der Sonnenuhr die
Sonne genau im Süden steht (Meridiandurchgang). Bei einer vertikalen Sonnenuhr, so wie
der vorhandenen, ist deshalb die Mittagslinie eine Lotrechte, die vom Fußpunkt des
Polstabes ausgeht. Alle anderen, von VII über XII bis VI bezeichneten Stundenlinien
treffen sich auch in diesem Fußpunkt. Dadurch, daß der Schattenstab parallel zur
Erdachse ausgerichtet ist, -war es möglich, die Stundenlinien so zu legen, daß das ganze
Jahr hindurch zu jeder Jahreszeit immer gleich lange Stundenintervalle und gleiche
Tagesstunden angezeigt werden (abgesehen von einer geringfügigen naturgegebenen
Abweichung, auf die später eingegangen wird). Die Zeiten der Wahren Ortszeit werden also
in gleicher Weise abgelesen wie die Uhrzeit auf unseren altbekannten Analoguhren mit nur
einem Stundenzeiger.
Eine Schar von Linien, die mit den Zahlen 2 bis 11 (arabische Ziffern) bezeichnet sind,
ist den babylonischen Stunden zugeordnet. Diese Zeitzählung hat ebenfalls gleich lange
Stunden. Sie beginnt aber mit Null bei Sonnenaufgang. Zum Ablesen der babylonischen
Stunden benutzt man den punktförmigen Schatten der Kugel auf dem Polstab. Fällt
beispielsweise dieser Schatten - egal zu welcher Jahreslinie - auf die Linie, die mit 6
bezeichnet ist, dann weiß man, daß seit dem Sonnenaufgang 6 Stunden der uns geläufigen
Länge vergangen sind.
Eine weitere Schar von Linien ist mit den Zahlen 14 bis 23 (arabische Ziffern)
gekennzeichnet. Sie sind den italischen Stunden zugeordnet. Auch diese Zeitzählung hat
gleich lange Stunden der uns geläufigen Länge, beginnt aber mit dem Sonnenuntergang.
Also ist das Ende der 24. Stunde auch der Sonnenuntergang. Abgelesen wird auch hier mit
Hilfe des Schattenpunktes der Kugel. Fällt beispielsweise der Schattenpunkt auf die mit
18 bezeichnete Linie, dann weiß man, daß bis zum Sonnenuntergang noch 24 - 18 = 6
Stunden verstreichen werden. Auch dies gilt unabhängig von der Jahreszeit.
Die weiteren Linien, die sog. Datumslinien, machen aus der Sonnenuhr einen (Halbjahres-)
Sonnenkalender. Die markanteste dieser Linien ist die mit AEQUINOCTIUM bezeichneten
Gerade, die fast waagrecht verläuft. Fällt nun der Schatten der Kugel auf diese Linie,
dann ist der Tag der Tagundnachtgleiche des Frühjahres oder des Herbstes. Zur
Tagundnachtgleiche läuft der Kugelschatten genau auf dieser Geraden entlang. Einen Monat
näher zur Sommersonnenwende läuft der Kugelschatten auf der darunter liegenden gebogenen
Linie; zwei Monate näher zur Sommersonnenwende entspricht die Schattenbahn der nächsten
Linie usf. bis schließlich am Tag der Sommersonnenwende der Kugelschatten der untersten
Datumslinie entlang wandert. Entsprechend ist es mit den Linien oberhalb der
AEQUINOCTIUM-Linie bis zur Linie für die Wintersonnenwende. Die Bezeichnungen für diese
Datumslinien sind in der innersten Spalte der beiden Tabellen zu finden (ZODIACUS); es
sind die Tierkreiszeichen. Damit ist auch das Datum als der Tag festgelegt, an dem die
Sonne in das jeweilige Sternbild des Tierkreises eintritt. Dabei geht das erste Halbjahr
von ( über ( bis ( und das zweite Halbjahr von ( über ( bis ( Es sei aber nicht
unerwähnt, daß es diese Kombination auch auf anderen alten Sonnenuhren gibt. Bekannter
und schlüssiger sind aber die ausgesprochenen Planetenuhren, wie man sie in Görlitz und
Oppenheim findet, in denen durch einen Schattenpunkt den Stunden des Tages bestimmte
Regenten zugeordnet werden.
Die markanteste Datumslinie ist die der AEQUINOCTIEN. Am entsprechenden Tag geht die Sonne
um 6 Uhr vormittags auf und am Nachmittag um 6 Uhr unter. Der Tag dauert dann 12 Stunden
und die Nacht ebenso lange. Diese Werte findet man in den jeweils zwei äußersten Spalten
der beiden Tabellen, und zwar ganz links die Nachtlänge LONGITUDO NOCTIUM, daneben den
Sonnenaufgang ORTUS SOLIS und ganz rechts die Taglänge LONGITUDO DIERUM und daneben den
Sonnenuntergang OCCASUS SOLIS. Nun sind aber hinsichtlich der durchgezogenen Datumslinien
nur zur Zeit der Tagundnachtgleichen die vier Werte volle glatte Zahlen ohne Bruchteile
(für Ardagger in etwa auch die Tage der Sonnenwenden), an den anderen Tagen der voll
gezeichneten Datumslinien ergeben sich anstelle ganzer Stunden eben Stunden plus
Bruchteile. Aber man kann auch Daten im Jahr und damit Datumslinien berechnen, an denen
die Sonne zur vollen Stunde auf- oder untergeht und demzufolge Tages- und Nachtlängen
auch volle- glatte Stundenzahlen sind. Diese Datumslinien sind hier nur innerhalb der je
zwei äußersten Spalten gezeichnet, um die Linienvielfalt des Zifferblattes nicht noch
größer zu machen. Man kann sich aber den Verlauf dieser Linien gut vergegenwärtigen,
denn er muß ja durch die Kreuzungspunkte der italischen und babylonischen Stundenlinien
gehen. Fällt also beispielsweise der Schattenpunkt etwas unterhalb der Linie auf das
Zifferblatt, dann ist der Sonnenaufgang etwa gegen 5 Uhr, der Sonnenuntergang gegen 7 Uhr
nachmittags, die Nacht dauert 10 Stunden und der Tag 14 Stunden.
Bisher war immer die Rede von der Wahren Ortszeit. Es ist auch bekannt, daß, bedingt
durch die elliptische Bahn der Erde um die Sonne und die sog. Ekliptik, jahreszeitliche
Schwankungen in den Zeiten zwischen einzelnen Meridiandurchgängen der Sonne auftreten.
Deshalb »geht« die Sonnenuhr nicht synchron mit der Mitteleuropäischen Zeit. Und weil
Ardagger etwa 1/4 Grad westlicher als Görlitz bzw. Gmünd liegt, »geht« die hiesige
Sonnenuhr nochmals um 1 Minute nach. Um nun von der Anzeige der Sonnenuhr auf die MEZ zu
kommen, addiere man zu der Anzeige also 1 Minute und ergänze diesen Zeitwert
vorzeichengerecht mit den Minutenwerten der folgenden Tabelle. Bei »Sommerzeit« ist zu
der ermittelten MEZ eine volle Stunde hinzuzuzählen.
Auf dem Zifferblatt kann man sich jede Position des Schattenpunktes vorstellen, auch ohne
daß er tatsächlich vorhanden wäre. Daraus folgt, daß man aus der Sonnenuhr für'eden
beliebigen Tag Tages- und Nachtlängen, die Zeiten der Sonnenaufgänge und -untergänge
entnehmen kann. Bei Vollmond steht der Mond genau der Sonne gegenüber. Also ist bei
Vollmond auch die Sonnenuhr abzulesen, wobei lediglich zu beachten ist, daß dann die
Anzeige 12 Uhr nicht den Mittag, sondern die Mitternacht bedeutet.
(MINUTEN):
Tag | Jan | Feb | Mar | Apr | Mai | Jun | Jul | Aug | Sep | Okt | Nov | Dez |
1. | 3 | 14 | 13 | 4 | -3 | -3 | 3 | 6 | -1 | -10 | -16 | -10 |
5. | 6 | 14 | 12 | 3 | -4 | -2 | 4 | 6 | -2 | -12 | -16 | -9 |
10. | 8 | 15 | 10 | 1 | -4 | -1 | 5 | 5 | -3 | -13 | -16 | -7 |
15. | 10 | 15 | 9 | 0 | -4 | 0 | 6 | 4 | -5 | -14 | -15 | -4 |
20. | 12 | 14 | 8 | -1 | -4 | 1 | 6 | 3 | -7 | -15 | -14 | -2 |
25. | 13 | 13 | 6 | -2 | -4 | 2 | 6 | 2 | -8 | -16 | -13 | 0 |
30. | 14 | 5 | -3 | -3 | 3 | 6 | 0 | -10 | -16 | -11 | 2 |